Am Gletscherrand. Von Kirchseeon nach Aying

Am Steinsee © MonacoTrail | Christoph Bücheler (alle Bilder)

Leib- und Magentour für einen autofreien Sonntag. Ausreichend Bewegung, Einkehrmöglichkeiten in regelmäßigen Abständen, perfekt ÖPNV-erschlossen. Oder eine Tour de Toteislöcher - comme vous voulez!

Eine weitere Etappe im äußeren S-Bahnbereich um München. Start am S-Bahnhof Kirchseeon, nach wenigen Schritten durch die Stadtrandsiedlung erreichen wir schnell den Forst unter dem Dachsberg und folgen einer deutlichen Trittspur neben einer wüsten Rückegasse. Im weiteren Verlauf der Strecke bewegen wir uns eigentlich ausschließlich auf Wirtschaftswegen und Nebenstraßen, typisch Voralpenland.

Die ganze Tour führt durch das Gelände der westseitigen Endmoränen des sog. „Inn-Chiemsee-Gletschers“ der letzten Eiszeit, der bis Haag reichte. Wer einmal das Gletschervorfeld eines zurückgehenden Gletschers besucht hat, hat eine Vorstellung, welche Schutthäufen er hinterlässt und welche Wüste zunächst. Dieser Gletscher war riesig und die äußerst kleinteilige Geländemodellierung der Gegend zeugt heute noch davon. Auch der Höhenrücken vom Dachsberg zum Kollmannsbrunnberg südlich von Kirchseeon ist eine hoch aufgeworfene, wallförmige Endmoräne. Ein weiteres typisches und bis heute häufig erhaltenes Merkmal sind die Toteislöcher, zurückgebliebene, abgetaute Eislinsen. Das erste besuchen wir mit einem kleinen Abstecher bei Reit, ein verborgener Tümpel im Wald.

Erste Zwischenstation ist das Kircherl von Maria Altenburg, wunderbar gelegen auf einem Geländesporn hoch über den Fischteichen an der Moosach. Die spätmittelalterliche Wallfahrtskirche wurde an Stelle einer Burgkapelle errichtet und um 1711 barockisiert. Wir können nicht hineinschauen, weil Messe ist: „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ singt die Gemeinde gerade, als wir vorbeigehen, im Kirchhof flattert die Flagge der Ukraine im frischen Morgenwind. Der kleine Biergarten „Sacherl“ nebenan hat noch geschlossen (öffnet am 2.4.22). Schade aber egal, wir werden nicht verdursten. Nach einer Waldpassage erreichen wir das nördliche Ufer des Steinsees. Wer dringenden Einkehrwunsch verspürt muss eine Variante am Westufer wählen, dort wird man fündig. Wir wählen die abseitigere Strecke um die Ostseite des Sees, aber das ist ein ausgeprägtes Spaziergängerrevier hier. Wegen Übernutzung der Ufer mussten diese weiträumig eingezäunt werden. Am Ostufer gibt es noch einen kleinen Zugang mit Bademöglichkeit und entsprechende Informationstafeln. Hoffentlich nützen sie was. Es heißt, man schützt, was man liebt. Was die Liebe zur Natur angeht, geht diese Liebe sehr oft nicht mit besonderer Rücksichtnahme einher. Immerhin ist der See seit 2004 nicht mehr in Privatbesitz. Damals gelang es dem Freistaat, sein Vorkaufsrecht zu nutzen, erst danach ließen sich Maßnahmen zum dauerhaften Erhalt der ökologischen Funktionen des Sees und seiner Uferzone ergreifen.

Auch der Steinsee ist ein Toteisloch, elf Meter tief immerhin und einer der größeren Seen der Gegend. Ein Stück weiter südlich, auch etwas abseits im Wald, liegt der Kitzelsee, kleiner und von moorigem Wald und Sümpfen eingefasst. Nordisch mutet das an und entspricht ganz einer eigentlich jungen, von der Eiszeit geformten Landschaft, vor gerade einmal gut 10.000 Jahren entstanden.

Der direkte Weg nach Aying führt durch den Wald am Fuchsberg, auch ein Endmoränenwall. Wir zweigen ab, um in Schlacht unsere Mittagseinkehr zu halten, im „Kaffeekandl“. Der Ort selbst ist ein eher unwirtliches Zeugnis geschäftstüchtiger Bauernmentalität, auch hier geht man eher ruppig mit der angeblich so hochwertigen bayerischen Natur und Landschaft um. Das Café ist ein sehr beliebter Anlaufpunkt und zu empfehlen. Mit Glück erwischen wir noch einen Platz im Garten.

Durch Wald und Feld geht es weiter nach Kastenseeon, wo der Toteisweiher im Sommer wohl einen regen Badebetrieb hat und ein Pferdeaktivhof oder so ähnlich gut besucht ist. Bei Lindach gäbe es schönen Bergblick, wäre es nicht so extrem dunstig heute. Zwischen Lindach und Aying erleben wir die Topographie im Wald besonders bewegt, weil wir nun die Moränenwälle queren, hinaus aus dem ehemaligen Gletscherfeld. Man sieht die Schutthäufen der Gletschermoränen vor dem inneren Auge förmlich vor sich.

Endpunkt ist der S-Bahnhof Aying, in der Regel nicht ohne vorherigen Zwischenstopp im Bräustüberl der bekannten örtlichen Brauerei. Der ist heute extrem gut besucht und der durstige Wanderer stellt sich die Frage, ob er als Fußgänger und Bahnfahrer nicht bevorzugt behandelt werden müsste und die zahlreichen Automobilisten sich ganz hinten anstellen sollten? Rhetorische Frage, besonders in Zeiten der heraufdämmernden E-Mobilität, wo jeder nun auch noch glaubt, guten Gewissens über die Landstraßen brettern zu dürfen. - Wir haben wieder Glück und erwischen ganz ohne Wartezeit jenseits der Straße einen Sonnenplatz mit Aussicht auf das bunte Treiben. Für ein schnelles Helles reicht’s, dann zuckeln wir wieder zurück in die Stadt.

 

 

Reine Gehzeit bei moderatem Tempo 5 h.


Weiterführende Infos: Der bedeutende Landschaftsökologe Karl Troll hat 1923 eine detaillierte geomorphologische Karte des Inn-Chiemsee-Gletschers angefertigt, die bis heute Gültigkeit hat. Sie kann online bei der Bayerischen Staatsbibliothek eingesehen werden. Auf der Karte lässt sich die Route am Gletschersaum sehr gut nachvollziehen. Außerdem ist im Münchner Pfeil Verlag 2009 ein zweibändiger landschaftskundlicher Führer zum Thema erschienen, zusätzlich eine aktualisierte Karte der Troll-Karte.

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