Ein Stück nordisch anmutende Tundra sei die Greina-Ebene, umrahmt von den Bergketten des Alpenhauptkamms. Durch hartnäckigen Widerstand dem Zugriff der Energiewirtschaft entrissen, die alles unter die Wasser eines Stausees setzen wollte. Ein großes Stück (Natur-)landschaft, auf rund 2.200 m Höhe, unverbaut, lediglich von einigen Kühen und Schafen beweidet, im Zentrum der Alpen.

Man sollte sich ausgiebig Zeit nehmen für die Greina, die kurze Etappe lässt das zu: wenn nötig ist die Capanna Scaletta auf dem ausgeschilderten Weg in 2-3 h erreicht. Schöner aber ist es, die Landschaft auf Umwegen oder weglos zu erkunden. Quellwasser des Rheins und des Ticino mäandern dahin, die Wasserscheide liegt in einem weitläufigen Sumpf. Beim Crap la Crusch, im Zentrum der Greina, entscheiden Zentimeter darüber, kleine Hindernisse im Gelände, wohin das Wasser seinen Weg nimmt, zur Nordsee oder ins Mittelmeer...

Die Greina ist eine eigene Welt: ein mit Schutt verfüllter Trog mit fast ebenem Talboden, 6 km lang, 1 km breit, von felsigen Bergketten eng umstellt, nur über fußläufige Passübergänge erreichbar. Nur nach Süden zur Alpe di Motterascio weitet sich der Blick zu den Adula-Alpen mit dem Rheinwaldhorn. Die nördliche Begrenzung um Piz Greina und Piz Medel ist aufgebaut aus kristallinen Gesteinen des Gotthardmassivs, der südlich gelegene Piz Coroi ist ein düsterer Schutthaufen aus schwarzem Tonschiefer der Jurazeit. Dazwischen, insbesondere am Passo della Greina gut sichtbar, lagern farblich dazu stark kontrastierende Schichten der Triaszeit aus hellem Dolomit und Rauhwacke.

Nichts von alledem ist zu sehen als wir am Morgen die Terrihütte verlassen. Dichte Wolken verhüllen alles, keine Berge weit und breit, nur die Nähe zählt. Stille zunächst. Allmählich wird das Rauschen des in die Schlucht linkerhand stürzenden Rein da Sumvitg hörbar. Wir nähern uns der Brücke, dem Übergang zum Pass Diesrut und ins Val Lumnezia. Hier reißen erste Löcher auf, inmitten von Wolken scheinbar haltlos treibende Bergspitzen werden sichtbar und hin und wieder eine fahle Sonnenscheibe. Schemenhaft erscheinen Schafe, dicht beieinander, noch im Pferch. Sacht füllt sich der fahle Nebel um sie herum mit warmem Morgenlicht. Dann hebt sich der Bühnenvorhang: die Sonne hat die Bergumrahmung überwunden, die Wolken zerfasern und lösen sich auf. Der Schäfer ist gekommen und entlässt die Herde. Das Stück beginnt.

Südlich der Brücke wird die Talebene flach und immer weiter. Wir stromern teils abseits des Wegs durch die Landschaft, waten im Flussbett des jungen Rheins, steigen auf einen namenlosen Moränenhügel, um uns einen Überblick zu verschaffen. Am benachbarten Hang ziehen Schafe in Richtung Val Canal, der wilden Arena unter dem Piz Terri. Leo Tuor, der Autor aus Val Sumvitg und selbst in jungen Jahren Schäfer in der Greina, hat es bereits beschrieben: "Die Schafe, wenn sie frühmorgens die vordere Ebene abgrasen, haben die Tendenz in die Flanke zu ziehen, Schnüre zu bilden und sich gegen Val Canal zu wenden. Wenn wir um zehn Uhr morgens dort sind, gelingt es uns noch, alle zu kehren. Wir müssen da sein, bevor der eine Teil der Herde rechts, der andere links hochsteigt. Aufwärts ziehen sie sicher, denn das Gras in der Talsohle ist zu alt."

Crap la Crusc, der Felsen mit dem kleinen Kreuz darauf, bildet die Mitte der Greina und die Wasserscheide zur Alpe di Motterascio. Ein Stück weiter westlich überschreiten wir am Greinapass (2355 m) die Grenze zum Tessin. Es ist nur noch ein kleiner Spaziergang zur Capanna Scaletta in prominenter Lage am oberen Ende von Val Blenio, vor dem Hintergrund des massigen Sasso Lanzone. Zeit ist noch genug für eine Alternative zum unschwierigen Hauptweg, eine anspruchsvollere Variante über Piano della Greina durch die kleine Schlucht des Brenno-Baches (blau-weiß-blau markiert). Etwas verborgen liegt dort auch oberhalb der "Arco della Greina", ein natürlicher Steinbogen. Dieser Weg erfordert, von oben her begangen, einige Kraxelei über die Blöcke im Bachbett hinweg und absolute Trittsicherheit in den steilen Uferhängen (T4), näher bei der Hütte wird es wieder einfacher.

TC1 | T2 (Hauptweg), T4 (Nebenroute am Brenno) | Tourdetails + Fotos